Auf dem Foto sieht man ein Kiosk-Regal mit Zeitungen

Wie wirkt sich die Bundestagswahl 2025 auf Menschen mit ME/CFS aus?

07 Fatigatio e.V. Aktuelles

Deutschland hat gewählt – aber was bedeutet das für Personen mit ME/CFS und deren Angehörige? Die Ergebnisse bieten Chancen aber auch Risiken für Betroffene. Zwar sind viele Entwicklungen momentan noch nicht absehbar, erste Einschätzungen lassen sich aber auf Basis der Wahlprogramme der Parteien sowie ihrer Positionen in der vergangenen Legislaturperiode treffen.


Die Ausgangssituation: Was die Wahl für ME/CFS-Erkrankte bedeutet

Nur zwei Parteien behandeln ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) direkt in ihren Wahlprogrammen: Die Grünen und die Linke. Das der Grünen nimmt direkt Bezug auf die Long-Covid-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und verspricht, die darin genannten Behandlungsangebote umzusetzen, Fachambulanzen auszubauen und die Ursachen- und Versorgungsforschung besser zu finanzieren. Schwerstbetroffene sollen mehr unterstützt werden. Das Programm der Linken geht nicht ganz so weit, möchte aber auch die Forschungsförderung ausbauen. Beide versprechen, sich für saubere Luft in Innenräumen einzusetzen.

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Parteien Teil einer neuen Regierung sein werden. Seit Ende letzter Woche führen Union und SPD Sondierungsgespräche für eine schwarz-rote Koalition. Keine der Parteien erwähnt ME/CFS in ihrem Wahlprogramm direkt. Allerdings gehen beide auf den Bereich Gesundheit generell ein. Auch aus ihren Positionen in der vergangenen Legislaturperiode ergeben sich möglicherweise Hinweise darauf, wie die Parteien in den nächsten vier Jahren mit ME/CFS umgehen werden.

Die Union hat sich in der vergangenen Legislaturperiode wiederholt für Menschen mit ME/CFS stark gemacht. Besonders nennenswert ist ein Antrag der Unionsfraktion, der im Januar 2023 im Bundestag diskutiert wurde und sich für „eine bessere Gesundheits- sowie Therapieversorgung, Aufklärung und Anerkennung“ für Erkrankte einsetzte. Dieser wurde allerdings im Juli 2023 mit Stimmen der SPD, der Grünen und der FDP abgelehnt. Der CSU-Politiker Erich Irlstorfer zeichnete sich besonders durch sein Engagement für Betroffene aus. Er ist jedoch bei der Wahl dieses Jahr nicht angetreten. Es bleibt also abzuwarten, inwieweit die Union das Thema in potenziellen Koalitionsverhandlungen aufgreifen wird.

Den Bereich Gesundheit und Pflege im Allgemeinen behandeln CDU und CSU ab Seite 67 ihres gemeinsamen Wahlprogrammes. Positiv für ME/CFS-Erkrankte, die Studien zufolge zu zwischen 75-85% weiblich sind, ist, dass die Union plant, geschlechterspezifische Ungleichheiten besser auszugleichen. In Forschung und Versorgung will sie ein geschlechtergerechtes Vorgehen erreichen. Um die Versorgung zu stärken, wollen CDU und CSU Haus- und Kinderarztpraxen eine stärkere Steuerungsfunktion zuweisen, um so Wartezeiten auf Arzttermine zu verkürzen.

Auch setzt die Union auf Prävention gängiger Volkskrankheiten und will hier die Angebote verbessern. Dies könnte sich indirekt auf ME/CFS und andere postakute Infektionssyndrome (PAIS) beziehen. Wie auch die SPD möchte die Union daran arbeiten, Lieferengpässe von Medikamenten und Medizinprodukten zu beseitigen. Sowohl Union als auch SPD setzen sich in ihren Wahlprogrammen für Digitalisierung ein und wollen in diesem Zusammenhang die Potenziale der elektronischen Patientenakte ausschöpfen. Diese wird von ME/CFS-Erkrankten kontrovers diskutiert, da sie zwar einige Vorteile mit sich bringt, aber auch Risiken birgt – so könnten zum Beispiel falsche oder veraltete Diagnosen in der Akte gespeichert werden, die dann von anderen Ärzten übernommen werden.

Auch die SPD ist in ihrem Wahlprogramm nicht direkt auf ME/CFS eingegangen. In der vergangenen Legislaturperiode hat sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach wiederholt für Betroffene eingesetzt, ist auf Fachtagungen aufgetreten und hat einen Runden Tisch zur Verbesserung der Versorgung von Long Covid Betroffen ins Leben gerufen. Dennoch hat sich in den Bereichen Forschung, Versorgung und Aufklärung in der letzten Legislaturperiode nur wenig verändert. Nicht immer sprach er im Kontext von Long Covid auch von ME/CFS. Allerdings trat er auch bei Events wie der LiegendDemo in Berlin 2024 auf, erwähnte die Erkrankung explizit und lobte, dass sie durch Aktionen wie diese aus der Tabuzone käme. Lauterbach hat in seinem Wahlkreis ein Direktmandat gewonnen und wird wieder in den Bundestag einziehen. Er hat bereits Interesse daran signalisiert, sein Amt als Gesundheitsminister in einer potenziellen schwarz-roten Koalition weiterzuführen.

In ihrem Wahlprogramm verspricht die SPD, die Barrierefreiheit sowohl im öffentlichen als auch privaten Bereich zu verbessern. Außerdem würde sie gerne eine solidarische Bürgerversicherung einführen, die allen Menschen gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung schaffen soll. Durch eine Termingarantie der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigung sollen die Wartezeiten für gesetzlich Versicherte genauso kurz sein wie die von Privatversicherten. Für Menschen mit schwerem ME/CFS dürfte besonders interessant sein, dass die SPD den Einsatz von Telemedizin und Telepharmazie verbessern möchte. Verbesserungen bei der Liefersicherheit von Arzneimitteln sollen für alle Arzneimittel greifen.

Im Bereich der Pflege gibt es Überschneidungen zwischen Union und SPD. Beide planen, Bürokratie zu reduzieren und die finanzielle Belastung von Betroffenen gering zu halten. Die SPD plant konkret, den Eigenanteil der Pflegekosten bei langfristigen stationären Aufenthalten auf 1.000 Euro pro Monat zu deckeln. Auch in der häuslichen Pflege soll laut dem Wahlprogramm der SPD eine solche Begrenzung eingeführt werden. Die Antragstellung auf Hilfe zur Pflege soll vereinfacht werden. Die Union hingegen plant, eine Pflegebedürftigkeit durch Prävention und Reha aufzuschieben und geht davon aus, so das System entlasten zu können. Ob dies auch für ME/CFS-Erkrankte bedeuten würde, dass es – parallel zum bereits geltendem Grundsatz Reha vor Rente – zu einem Prinzip von Reha vor Pflege kommen wird, bleibt abzuwarten.

Welche Aufgaben erwarten den nächsten Gesundheitsminister im Bereich ME/CFS?

In den Bereichen Versorgung, Forschung und Aufklärung gibt es viel zu tun – nicht nur, wenn es um ME/CFS geht, sondern auch in Bezug auf andere postakute Infektionssyndrome (PAIS). Der Fatigatio e.V. hat bereits vor der Wahl im Januar 2025 gemeinsam mit 12 anderen Patientenorganisation an die Politik appelliert, diese Themen in einen künftigen Koalitionsvertrag mit aufzunehmen.

In dem Brief weisen die Organisationen auf die prekäre Situation, in der sich viele Betroffene befinden, hin. Das Gesundheitssystem ist nicht auf die Versorgung von ME/CFS-Erkrankten oder anderen von PAIS Betroffenen ausgelegt, obwohl die Krankheiten weder neu noch selten sind. Daraus resultiere nicht nur menschliches Leid, sondern auch ein großer wirtschaftlicher Schaden, hervorgerufen durch den großen Anteil an arbeitsunfähigen Erkrankten, so der Brief.

Die Forderungen, die der Fatigatio e.V. und die anderen Organisationen gestellt haben, decken sich mit den Aufgaben, die einen neuen Gesundheitsminister bezüglich ME/CFS und anderen PAIS erwarten. Um die Situation von Betroffenen nachhaltig und effektiv zu verbessern, sind vor allen Dingen Forschungsförderung, eine flächendeckende Versorgung und eine groß angelegte Aufklärungskampagne wichtig.

Im Bereich der Forschungsförderung ist ein jahrzehntelanger Rückstand aufzuholen. Um diesen zu beseitigen sowie um wirksame Therapien zu entwickeln, sind massive Investitionen in die Grundlagen- sowie Arzneimittelforschung nötig. Vielversprechende Medikamentenstudien haben häufig große Probleme bei der Finanzierung. Auch dauern Zulassungsstudien sehr lange, wodurch Patienten wertvolle Zeit verlieren und dem Arbeitsmarkt unnötig lange Fachkräfte fehlen. Die Grundlagenforschung hat zwar in den vergangenen Jahren Fortschritte verzeichnen können, dennoch ist auch dieser Bereich massiv unterfinanziert. Dies zu verändern, ist nicht nur Aufgabe eines künftigen Gesundheitsministers; auch das Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ist hier gefragt, da es in dessen Händen liegt, Forschungsgelder zu verteilen.

Um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten, benötigt es den Aufbau eines Netzwerks an Kompetenzzentren und Ambulanzen sowie eine bessere Berücksichtigung von Betroffenen im Sozialsystem. Trotz der hohen Prävalenz von ME/CFS – diese lag in prä-pandemischen Zeiten bei zwischen 250.000 bis 300.000 und hat sich durch die Pandemie mehr als verdoppelt – gibt es kaum Spezialambulanzen. Hier braucht es dringend weitere Anlaufstellen. Schwerbetroffene, die zu krank für eine ambulante Behandlung sind, würden davon profitieren, wenn die telemedizinische Versorgung weiter ausgebaut werden würde. Erkrankte berichten häufig von Schwierigkeiten beim Erlangen eines Pflegegrades, eines Grades der Behinderung oder einer Erwerbsminderungsrente. Der nächste Gesundheitsminister sollte sich dafür einsetzen, dass ME/CFS-Erkrankte angemessen eingestuft werden.

Eine breit aufgestellte Aufklärungskampagne, die sich nicht nur an die Gesellschaft, sondern auch an Vertreter aus dem Gesundheitssystem richtet, würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Stigmatisierung von Betroffenen zu reduzieren sowie sicherzustellen, dass ihnen keine Fehlbehandlungen widerfahren. Momentan ist ME/CFS nicht Teil des medizinischen Curriculums und so ist das Wissen bezüglich der Erkrankung unter Medizinern teils gering. Trotz bestehender Belastungsintoleranz und Post-Exertional Malaise (PEM) werden häufig aktivierende Therapien angewandt, die Patienten schaden. Eine der Aufgaben, die sich dem nächsten Gesundheitsminister stellt, wäre es also, das Gesundheitswesen und auch die Gesellschaft über ME/CFS aufzuklären.

So bindend ist ein Koalitionsvertrag: Das Beispiel Berlin

Ob es die Themen Forschung, Versorgung und Aufklärung von ME/CFS in den Koalitionsvertrag schaffen, ist momentan noch sehr schwer abzusehen. Doch selbst, wenn am Ende der Verhandlungen umfangreiche Verbesserungen vereinbart werden, ist ungewiss, ob diese in der Realität auch umgesetzt werden. Denn: Ein Koalitionsvertrag ist nicht rechtlich bindend. In der Praxis kommt es häufig vor, dass gemeinsame Vorhaben einer neuen Koalition nicht oder nur teilweise umgesetzt werden.

In Berlin beispielsweise gibt es seit 2023 eine Koalition zwischen SPD und CDU. In ihrem Koalitionsvertrag gehen sie zwar nicht auf Menschen mit ME/CFS ein, versprechen aber „den Aufbau wohnortnaher, niedrigschwelliger, und interdisziplinär angelegter Anlaufstellen für von Long/Post COVID und/oder Post-Vac betroffenen Personen“ zu fördern, auch finanziell. Inzwischen ist klar: Umgesetzt wird dieses Vorhaben nicht. Im Juni 2024 lehnte der Berliner Senat einen Antrag, der solche Ambulanzen forderte, ab.

Auch die Kassenärztliche Vereinigung Berlin stellte sich gegen die Einrichtung von Ambulanzen und berief sich in ihrer Begründung auf Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung, die im Juli 2024 von nur 10.679 Personen, die an Long oder Post Covid erkrankt sind, ausging. Die Charité Berlin hingegen ging, Stand Dezember 2024, von 200.000 Menschen, die an PAIS erkrankt sind und in Berlin leben, aus. Zusammenfassend muss selbst eine Aufnahme von Versorgung, Forschung und Aufklärung von ME/CFS in den Koalitionsvertrag, wie von Fatigatio e.V. gefordert, nicht zwingend zu einer Verbesserung der Versorgungssituation führen. In Anbetracht der stetig wachsenden Zahl an Erkrankten lohnt sich allerdings nicht nur, sich für ME/CFS und andere PAIS einzusetzen, um die Situation direkt Betroffener zu verbessern, sondern auch, um den Arbeitsmarkt zu schützen und finanzielle Ressourcen zu schonen.

Die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag fand als vorgezogene Neuwahl am 23. Februar 2025 statt.