Eine junge ME/CFS-Betroffene mit lockigen schwarzen Haaren liegt erschöpft im Bett.

Aus dem Leben eines moderat Betroffenen - Bruno, Anfang 50

Mein Name ist Bruno, ich bin Anfang 50 und komme aus Nordrhein-Westfalen. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Ich war immer ein aktiver Mensch, bin im Alltag regelmäßig Fahrrad und Inliner gefahren und habe gerne Aktivurlaube gemacht, oft auch mit Zelt, Fahrrad- und Wandertouren. Auch war ich musikalisch aktiv sowie ehrenamtlich sozial engagiert. Gearbeitet habe ich in einem sozialen Beruf. Meine Arbeit habe ich immer sehr gern ausgeübt, sie gab mir Bestätigung und Erfüllung.

Vor ca. 10 Jahren bin ich dann an einer schweren Influenza-Grippe erkrankt, nach der ich nicht mehr gesund wurde. Ich hatte wochenlang Nachtschweiß am ganzen Körper, fühlte mich ständig schlapp und grippekrank, hatte Kreislaufprobleme, Herzrhythmusstörungen, Tinnitus, Atemnot beim Bergangehen, plötzliche einsetzende Schwächeschübe, konnte kaum länger stehen. Jegliche Belastung schlug massiv zurück. Ich hatte Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen sowie starke Schmerzen im Kieferknochen und in der Rückenmuskulatur. Mir ging es zeitweise körperlich so schlecht, dass ich manchmal sogar Angst hatte, zu sterben. Ich wusste diese plötzlich und scheinbar ohne Grund einsetzenden Schwächeschübe nicht zu deuten. In der ersten Zeit musste ich fast nur im Bett oder auf dem Sofa sitzen oder liegen und konnte mich nur selten belasten und aufstehen. Selbst das Duschen war eine enorme Kraftanstrengung.

Nun begann eine jahrelange Ärzte-Odyssee. In den ersten Jahren habe ich dreimal meine hausärztliche Betreuung wechseln müssen. Ich bin auf Unverständnis gestoßen, bin beschimpft, belächelt oder weggeschickt worden. Man gab mir das Gefühl, ein Hypochonder, Ärztehopper oder Simulant zu sein. Bereits nach sechs Wochen Krankheit attestierte mir die damalige Hausärztin eine psychosomatische Erkrankung (da ja nichts anderes zu finden sei) und verschrieb mir Psychopharmaka. Diese liegen heute noch ungeöffnet in meinem Nachtschrank. Schon nach diesen ersten sechs Wochen wurde ich ärztlicherseits nachdrücklich aufgefordert, mich wieder körperlich zu belasten. Es half auch nicht meine Schilderung, dass es mir nach Belastung nur noch schlechter ging. Fast noch schlimmer als meine Beschwerden empfand ich das Gefühl einer enormen Hilflosigkeit, da kein Arzt meinen Äußerungen Glauben schenkte.

Schließlich gab ich dem Druck der Hausärztin nach und versuchte mit aller Kraft, wieder zu arbeiten. Dies scheiterte bereits nach wenigen Tagen und ich musste erneut krankgeschrieben werden. Die Hausärztin drängte mich auch, einen Psychologen aufzusuchen. Bereits nach den ersten Sitzungen sagte jedoch der Therapeut, dass er in meinem Falle keineswegs eine psychische Ursache sehe, da müsse etwas anderes sein. Das tat mir zunächst sehr gut und bestätigte mich in meiner Selbsteinschätzung.

Doch auch in den darauffolgenden Monaten konnte keine körperliche Ursache ausfindig gemacht werden. Die Hausärztin überredete mich zu einer psychosomatische Reha, in der ich bei vollgepacktem Tagesprogramm körperlich ständig überfordert wurde und nach der es mir auch nicht besser ging. Während der Reha wurden alle Äußerungen zu körperlichen Beschwerden ausschließlich einer möglichen psychischen Ursache zugeordnet und man glaubte mir und meinem Krankheitsempfinden nicht. Gegen Ende der Reha hatte ich nicht mehr den Mut und die Kraft, gegen alle Widerstände auf das Vorhandensein meiner körperlichen Symptome zu bestehen. Dies hätte ohnehin die psychosomatische Diagnose weiter verfestigt und mich arbeitsunwillig oder krankheitsuneinsichtig aussehen lassen. Ich fing sogar an, mir selbst einzureden, dass ich psychisch krank sein müsse. Hinzu kam ein deutlich spürbarer Druck seitens der Rehaeinrichtung, nach der Entlassung wieder arbeiten zu gehen. Ich habe also von da an meine körperlichen Symptome aus Angst vor möglichen Fehldeutungen meistens lieber verschwiegen. Entlassen aus der Reha wurde ich mit den Hauptdiagnosen „Somatisierungsstörungen“ und „Neurasthenie“.

Wenn ich in der Vergangenheit krank war, hatte ich eigentlich immer ein gutes Gespür dafür, was mit mir und meinem Körper nicht stimmte. So blieb auch dieses Mal trotz aller Widerstände weiterhin das Gefühl, dass ich körperlich erkrankt war. Ich fühlte mich nicht ausgebrannt wie bei einem Burnout oder motivationslos und niedergeschlagen wie bei einer Depression. Mein soziales Umfeld hatte ebenfalls nicht den Eindruck, dass ich psychisch erkrankt sei. Ganz im Gegenteil: Obwohl es mir körperlich sehr schlecht ging, habe ich mich immer wieder mit aller Kraft aufgerafft. Ich habe enorme Energien aufgebracht, um wieder gesund zu werden, indem ich immer wieder zielgerichtet recherchierte und Fachärzte und Spezialisten aufsuchte, die mir eventuell hätten helfen können. Schließlich wollte ich möglichst bald wieder arbeiten und am Leben teilhaben. Außerdem befürchtete ich eine ChronifizierungÜbergang von der vorübergehenden zur dauerhaften Präsenz einer Erkrankung oder eines Symptoms, insbesondere von Schmerzen
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und Verschlechterung meines Zustandes, je länger tatenlos abgewartet wurde.

Erst im Jahr 2015 – also drei Jahre nach Krankheitsbeginn – bin ich per Zufall bei einem Arzt gelandet, der sich mit ME/CFSMyalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome
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auskennt und bereits jahrelang mit Erkrankten arbeitet. Das tat mir enorm gut. Er stellte zudem einen Immundefekt bei mir fest... endlich einmal etwas Messbares! Später kamen dann noch weitere messbare Parameter ans Licht. Es gab also doch eine Reihe von somatischen Ursachen. Es dauerte aber noch bis zum Jahr 2018, dass die Diagnose MEMyalgische Enzephalomyelitis
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/CFSChronisches Fatigue Syndrom
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gesichert bei mir gestellt wurde, d.h. sechs Jahre nach Krankheitsausbruch. Später kam noch die Diagnose MCAS hinzu. Seit 2018 habe ich auch eine Hausärztin, die sich mit ME/CFS auskennt. In der vorherigen Zeit wurde ich jedoch von den meisten Ärzten und von meiner Krankenkasse bei der Suche nach Fachärzten nicht unterstützt. Ganz im Gegenteil: Ich wurde eher als lästig empfunden. Das macht mich rückblickend sehr traurig und hat auch mein Vertrauen in unser Gesundheitssystem erschüttert.

Mein Arbeitgeber war in der Zeit meiner Erkrankung jedoch sehr entgegenkommend. Ich hatte mir dort auch in der Vergangenheit einen guten Ruf erarbeitet. Seit Krankheitsbeginn habe ich zweimal jeweils für längere Zeit mit aller Kraft und mit Wiedereingliederung versucht, wieder zu arbeiten – mit stark verminderter Arbeitszeit und zweistündiger Mittagpause, in der ich mich dann zu Hause hinlegen konnte, um die zweite Tageshälfte zu überstehen. In beiden Fällen musste ich jedoch nach Bagatell-Infekten wieder krankgeschrieben werden.

Ich habe für zahlreiche diagnostische Untersuchungen und Behandlungen enorme Summen ausgegeben, so dass nun unser Geld fast aufgebraucht ist. Meine Krankenkasse war mir leider keine Hilfe, sie hat in all den Jahren sämtliche Anträge auf Behandlungskostenübernahme abgelehnt, auch wenn sich nachher herausstellte, dass die Untersuchungen zielführend für die weitere Diagnostik und Behandlung waren. Wie ich später schmerzlich feststellen musste, ist eine rückwirkende Kostenübernahme durch die Krankenkasse grundsätzlich ausgeschlossen.

Bis heute bin ich nicht genesen, bin arbeitsunfähig und musste nun schweren Herzens einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente sowie Schwerbehinderung stellen. Ich habe mich seit Ausbruch der Erkrankung nicht einen einzigen Tag in der Lage gefühlt, arbeiten zu gehen. Mittlerweile erhalte ich seit über einem Jahr kein Geld, (noch) keine Rente und auch kein Hartz IV, da meine Frau arbeitet. Bei Behörden erlebe ich eine ständige Abwehr und Nicht-Anerkennung der Erkrankung. Es wird stets versucht, Ansprüche geschickt abzulehnen und das Vorhandensein der Erkrankung zu negieren. Beim Antrag auf Schwerbehinderung befinde ich mich deshalb derzeit im Klageverfahren gegen das Versorgungsamt. Auch in diesem Bereich bleibt mir die Belastung zusätzlich zur Erkrankung nicht erspart, was natürlich auch immer wieder zu neuen Crashs führt.

Die meisten Beschwerden sind bis heute geblieben, nur einige wenige haben sich leicht gebessert, weil ich jetzt meine Belastung anpasse, z.B. durch PacingAnpassung des gesamten Lebensstils an individuelle, verminderte Belastungsgrenze
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. Auch habe ich Nahrungsergänzungsmittel gefunden, die meine Symptome etwas lindern, so dass ich jetzt nicht mehr überwiegend bettgebunden bin. Wenn ich meine Kräfte spare und mich vorausschauend verhalte, schaffe ich es, mich eine halbe bis eineinhalb Stunden am Tag zu belasten. Ich kann je nach Tagesform z.B. einen Arztbesuch am Tag machen, ein kurzes Treffen mit anderen oder einen kleinen Spaziergang in Verbindung mit einem kleinen Einkauf. Oft weiß ich, wo Bänke stehen, auf die ich mich dann zwischendurch setzen kann, um wieder Kraft zu schöpfen. Im Vorfeld ist hierzu eine Kräftesammlung sowie im Nachhinein eine Schonung erforderlich. Das ist jedoch erfahrungsgemäß kein Garant für die Verhinderung der Symptomverschlechterung im Anschluss. Leichtere Hausarbeiten kann ich nur in kleine Schritte aufgeteilt leisten – unterbrochen durch Ruhephasen. Jeden Mittag muss ich mich für ein bis zwei Stunden hinlegen, um Kraft für die zweite Tageshälfte zu sammeln. Wegen zahlreicher Nahrungsmittelunverträglichkeiten bin ich zudem sehr eingeschränkt in meiner Ernährung.

Es ist mir zum Glück noch möglich, manchmal ein wenig Musik zu machen, wenn auch nur eingeschränkt, weil man auch hierfür Konzentration und motorische Koordination benötigt. Aus der Musik schöpfe ich viel Kraft und Lebensfreude. Meiner Familie bin ich unendlich dankbar, weil sie mich ernst nimmt und mich auch nach dieser langen Zeit mit viel Geduld, Liebe und Verständnis begleitet und unterstützt. Trotzdem war und ist meine Erkrankung eine enorme Belastung für sie. Zum Glück sind meine Kinder nun erwachsen und schon ausgezogen. Aber damals war es für sie und uns alle eine sehr schwierige Situation. Als meine Frau vor nicht allzu langer Zeit einmal eine Woche in Urlaub fuhr und ich auf mich selbst angewiesen war, habe ich feststellen müssen, dass ich allein nicht in der Lage bin, auch nur die grundlegendsten Dinge im Haushalt zu regeln und mich adäquat zu versorgen. Es kostete mich einfach viel zu viel Kraft. Wenn ich also alleinstehend wäre, würde ich im Alltag nicht zurechtkommen. Das hat mich sehr erschreckt.

Auch für Freunde und Verwandte ist es nicht leicht, mit mir und meiner unbekannten Erkrankung umzugehen. Hinzu kommt, dass ich nicht immer möchte, dass andere wegen mir Rücksicht nehmen müssen. Dies führt bei mir dann manchmal doch zu Überlastungen oder zu Rückzug. Zur Verarbeitung meiner Krankheitssituation nehme ich in größeren Abständen eine psychotherapeutische Begleitung wahr, die mir sehr hilft, die Krankheit und die Folgen für mich und meinen Alltag zu verarbeiten. Auch die Fatigatio-Selbsthilfegruppe hilft mir sehr durch den Austausch mit anderen Betroffenen.

Ich würde mir wünschen, dass andere Betroffene künftig schneller auf Hilfen und informierte Ärzte stoßen, damit sie nicht so einen langen Leidensweg durchleben müssen wie ich. Die Erkrankung an sich ist nämlich schon schwer genug!

 


 

Exemplarischer Tagesablauf

Morgens:

  • Aufstehen (mit starkem Grippegefühl, Muskelschmerzen und körperlicher Schwäche).
  • Frühstücken und duschen (bedeutet eine große Kraftanstrengung).
  • Regenerationsphase (unterschiedlich lang, je nach Bedarf ruhig sitzend oder liegend).
  • Manchmal möglich: kleine überschaubare Hausarbeiten, immer wieder unterbrochen von Ruhepausen (z.B. ein wenig staubsaugen oder aufräumen).

Mittags:

  • Mittagessen.
  • Danach: 1-2 Stunden schlafen (oder bei Schlaflosigkeit liegend ausruhen). Das ist unbedingt erforderlich, um wieder neue Kräfte für die zweite Tageshälfte zu sammeln. Falls dies nicht möglich ist, geht es mir erfahrungsgemäß die gesamte zweite Tageshälfte sehr schlecht (Schwächeschübe, Verstärkung der FatigueAndauerndes Gefühl der Erschöpfung
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    -Beschwerden, Konzentrationsprobleme, Krankheits- und Grippegefühl).

Nachmittags:

  • Je nach Tagesform: kleiner Spaziergang auf gewohnten Strecken mit langsamem Gang, manchmal in Verbindung mit einem kleinen Einkauf. Unterwegs muss ich mich bei Bedarf immer wieder auf einer Bank ausruhen, oftmals beim Gehen zwischendurch stehen bleiben, um bei plötzlich auftretenden Atembeschwerden und Schwäche Luft zu holen.
  • Musik hören oder fernsehen (geht gut, im Gegensatz zum Lesen oder Schreiben, was konzentrationsmäßig nur selten geht).
  • Regenerationszeiten immer bei Bedarf.

Abends:

  • Abendessen.
  • Ausruhen: liegend oder sitzend.
  • Wenn möglich: Musik hören, Fernsehen, sich unterhalten.
  • Schlafen gehen.
     
 
Disclaimer: Die auf dieser Seite dargestellten Inhalte stellen Erfahrungen und Meinungen von Betroffenen dar und spiegeln nicht zwangsläufig die offizielle Position des Fatigatio e.V., Bundesverband ME/CFS, wider. Die Namen einiger Beteiligter wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.