Aus dem Inhalt des Radio-Beitrags vom rbb am 21.06.2025
Sommerzeit ist Reisezeit. Für viele Menschen bedeutet das: Neues entdecken, Freiheit spüren, einfach mal raus aus dem Alltag. Doch für Betroffene von ME/CFS kann genau dieser Wunsch zu einer kaum überwindbaren Hürde werden.
ME/CFS ist eine schwere Multisystemerkrankung, die oft nach einem Virusinfekt (wie Covid-19) ausbricht. Allein in Deutschland sind mindestens 500.000 Menschen betroffen. Selbst kleinste Anstrengungen können zu extremer Erschöpfung führen. Reize wie Licht, Geräusche oder Wind werden nicht wie früher einfach als angenehm empfunden, sondern können eine massive Überlastung auslösen – mit teils tagelangen Verschlechterungen („Crashes“).
Besonders eindrücklich schildert das die Ärztin und ME/CFS-Betroffene Bara Bensch. Im Radiobeitrag von rbb berichtet sie von ihrer eigenen Erfahrung: Vor ihrer Erkrankung liebte sie das Reisen – am liebsten mit dem Fahrrad und dem Zelt, spontan und abenteuerlich. Doch 2021 infizierte sie sich mit Covid-19 und erkrankte danach schwer an ME/CFS und war auf Hilfe angewiesen. Heute lebt sie wieder allein, doch ihr Schweregrad schwankt zwischen mild und moderat – das heißt: sie muss jeden Reiz, jede Anstrengung genau kalkulieren.
Trotzdem wagte sie im vergangenen Jahr den Versuch, sich einen Herzenswunsch zu erfüllen und an die Ostsee zu fahren. Sie wählte bewusst einen Naturcampingplatz direkt hinter den Dünen, um möglichst wenig laufen und möglichst viel Ruhe genießen zu können. Doch die vermeintlich idyllische Umgebung stellte sich als Überforderung heraus: Sonne, Wind, das Rauschen der Wellen – all das kostete sie mehr Kraft, als sie hatte. Hinzu kam noch laute Musik in den Sanitäranlagen, die sie nicht abstellen lassen konnte. Zu erschöpft und beschämt, um an der Rezeption zu bitten, brach sie die Reise nach zwei Tagen schweren Herzens ab.
Diese Erfahrung steht beispielhaft für die besonderen Hürden, die Reisen für Menschen mit ME/CFS mit sich bringt. Reize, die Gesunde als belebend empfinden, können Betroffene in einen Zustand völliger Erschöpfung zwingen. Auch organisatorisch ist Reisen schwierig: viele Betroffene können sich Reisen finanziell nicht leisten, weil die Krankheit oft nicht anerkannt ist und sie von Bürgergeld leben müssen. Zudem fehlen barrierearme und reizreduzierte Angebote im Tourismus.
Bara Bensch engagiert sich beim Fatigatio e.V. im Sozial- und Telefonteam. Sie kennt die Zerrissenheit vieler Betroffener: Einerseits der Wunsch, für Angehörige oder sich selbst etwas zu erleben, andererseits das Risiko, dafür eine massive Verschlechterung der Symptome in Kauf nehmen zu müssen. Für viele bleibt Reisen so ein unerfüllter Traum – während die Krankheit sie ohnehin schon aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließt.
Im Beitrag kommt auch Corinna Melcher zu Wort. Sie arbeitet in Teilzeit an der Universität Hamburg. Früher hat sie Vollzeit in der Medienbranche gearbeitet, aber das geht nicht mehr, seit ihre Partnerin Anne-Sophie vor gut drei Jahren an ME/CFS erkrankt ist und Corinna sich um sie kümmern muss. "Ich merke halt, dass das Thema Urlaub auf so vielen Ebenen schwierig geworden ist, weil ich bin ja gesund, ich könnte theoretisch Reisen machen, wie ich will, aber die Trauer reist immer mit oder auch eine Sorge und ein Verantwortungsgefühl.", so Corinna.
ME/CFS-Erkrankte brauchen eine barrierefrei und reizarme Umgebung, die im Tourismus bislang Mangelware ist, so das Fazit der Sendung.
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Der ca. 8-minütige Beitrag kann hier angehört werden (mit freundlicher Genehmigung von Autor Matthias Bertsch):