Auf dem Foto sieht man ein Kiosk-Regal mit Zeitungen

Theorie - Therapien für chronische Intensivpatienten

Theorie: Therapien für chronische Intensivpatienten könnten neue Behand-lungsansätze für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatiguesyn-drom (ME/CFS) aufzeigen

 

In einem früheren Artikel des Autorenteams (https://doi.org/10.3389/fmed.2021.628029) wird die Hypothese aufgestellt, dass der gleiche Pathomechanismus, der eine Ge-nesung von Patienten mit verlängerter Intensivbehandlung verhindert, auch der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) zugrun-de liegt. Für chronische Intensivpatienten wird ein „Teufelskreis“ von Entzündung (pro-inflammatorische Cytokine), oxidativem und nitrosativem Stress (O&NS) und einer verringerten Funktion des Schilddrüsenhormons angenommen (Abb. 1). Die-ser führt zu einer multiplen Unterdrückung verschiedener Hormonachsen. Hier wird die Ursache gesehen, die eine endgültige Genesung verhindert – unabhängig von der ursprünglichen akuten Erkrankung.

Theory: Treatments for Prolonged ICU Patients May Provide New Therapeutic Avenues for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS)

Dominic Stanculescu, Lars Larsson and Jonas Bergquist

Front. Med., 07 May 2021 - https://doi.org/10.3389/fmed.2021.672370

Abstract: We here provide an overview of treatment trials for prolonged intensive care unit (ICU) patients and theorize about their relevance for potential treatment of myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS). Specifically, these treatment trials generally target: (a) the correction of suppressed endocrine axes, notably through a “reactivation” of the pituitary gland’s pulsatile secretion of tropic hormones, or (b) the interruption of the “vicious circle” between inflammation, oxidative and nitrosative stress (O&NS), and low thyroid hormone function. There are significant parallels in the treatment trials for prolonged critical illness and ME/CFS; this is consistent with the hypothesis of an overlap in the mechanisms that prevent recovery in both conditions. Early successes in the simultaneous reactivation of pulsatile pituitary secretions in ICU patient - and the resulting positive metabolic effect - could indicate an avenue for treating ME/CFS. The therapeutic effects of thyroid hormone - including in mitigating O&NS and inflammation and in stimulating the adreno-cortical axis - also merit further studies. Collaborative research projects should further investigate the lessons from treatment trials for prolonged critical illness for solving ME/CFS.

Deutschsprachige Zusammenfassung des Artikels:

Theorie: Therapien für chronische Intensivpatienten könnten neue Behandlungsansätze für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatiguesyndrom (ME/CFS) aufzeigen

In einem früheren Artikel des Autorenteams (https://doi.org/10.3389/fmed.2021.628029) wird die Hypothese aufgestellt, dass der gleiche Pathomechanismus, der eine Genesung von Patienten mit verlängerter Intensivbehandlung verhindert, auch der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS) zugrunde liegt. Für chronische Intensivpatienten wird ein „Teufelskreis“ von Entzündung (pro-inflammatorische Cytokine), oxidativem und nitrosativem Stress (O&NS) und einer verringerten Funktion des Schilddrüsenhormons angenommen (Abb. 1). Dieser führt zu einer multiplen Unterdrückung verschiedener Hormonachsen. Hier wird die Ursache gesehen, die eine endgültige Genesung verhindert – unabhängig von der ursprünglichen akuten Erkrankung.

Bisherige Behandlungsversuche chronischer Intensivpatienten umfassen entsprechend dieser Hypothese: a) die Korrektur der unterdrückten Hormonachsen insbesondere durch eine „Reaktivierung“ der stoßweisen Ausschüttung der stimulierenden Hormone aus der Hypophyse oder b) die Unterbrechung dieses „Teufelskreises“. Daraus ergeben sich mögliche Parallelen für die Behandlung von ME/CFS.

Um eine Kompensation bzw. Korrektur der unterdrückten Hormonachsen zu erreichen gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder werden periphere Hormone gegeben um den Mangel auszugleichen oder es wird die „Reaktivierung“ der übergeordneten Hormondrüsen angestrebt. Im ersten Fall wurden sowohl bei chronischer Intensiverkrankung als auch bei ME/CFS Glucocorticoide (Hydrocortison, DHEA) oder andere Nebennierenrindenhormone eingesetzt. Damit können Entzündungen behandelt und Symptome verbessert werden. Der Nachteil ist, dass sie durch negatives Feedback wieder die corticoide Hormonachse herunterregeln. Der Gebrauch von GH (growth hormone) und IGF-1 (insulin like growth hormone-1) wird ebenfalls bei beiden Erkrankungen als nützlich beschrieben. Er beinhaltet aber Risiken in der Anwendung und regelt ebenfalls die entsprechende somatotrope Hormonachse herunter. Im Fall einer Supplementierung von Schilddrüsenhormonen wird zwar auch die thyreotrope Hormonachse unterdrückt. Ihr Einsatz wird aber gerechtfertigt durch den positiven Effekt auf die gestörte Hormonwirkung. Positive Effekte werden für ME/CFS und Fibromyalgie beschrieben. Dabei kann es entscheidend sein, ob T4 oder das aktive T3 zum Einsatz kommt. Etliche Erfahrungsberichte von ME/CFS-Therapeuten und Bücher, die von Patienten geschrieben wurden, liegen vor. (Anmerkung: Die Regulationsmechanismen der verschiedenen Hormonachsen werden in dem vorangegangenen Artikel der Autoren näher beschrieben.)

Im zweiten Fall wird versucht, anstelle einer Gabe der peripheren Hormone die übergeordnete Hormondrüse wieder zu aktivieren. Hypothalamus und Hypophyse sind ja nicht geschädigt und würden bei entsprechenden Signalstoffen ihre Arbeit aufnehmen. So würde auch der Eingriff in die Regulierung der Hormonachsen durch die peripheren Hormone mit entsprechenden Nebenwirkungen vermieden. In Frage kommen im Fall der corticoiden Achse die Gaben von ACTH oder CRH. Allerdings muss man davon ausgehen, dass sich nach längerer Unterdrückung dieser Achse die Nebennieren zurückgebildet haben und nur allmählich wieder ihre normale Funktion aufnehmen können. Auch bei der Reaktivierung der somatotropen und thyreotropen Achsen durch die Gabe der entsprechenden stimulierenden Hormone wurden günstige Effekte im Stoffwechsel erzeugt. Diese Vorgänge sind aber bisher weitgehend unerforscht. Kombiniert man die stimulierenden Hormone der drei Hormonachsen, so wird die günstige Wirkung auf den Stoffwechsel verstärkt. Aber auch hier fehlt weitgehend jede Forschung.

Eine andere Herangehensweise ist der Versuch, den „Teufelskreis“ zu unterbrechen, indem die einzelnen Glieder (Entzündung, O&NS, Schilddrüsenhormone) therapiert werden. Im Vordergrund steht die Supplementierung von Schilddrüsenhormonen in euthyreoten Patienten (d.h. bei unauffälligen Schilddrüsenwerten im Blut). Diese beeinflussen z.B. die Aktivität der Mitochondrien, das Gleichgewicht von freien Radikalen und Schutzmechanismen bei O&NS, die Funktion des Immunsystems, die Aktivität des zentralen Nervensystems und sie stimulieren die Freisetzung von ACTH. Sowohl bei chronischer Intensiverkrankung als auch bei ME/CFS ist weitere Forschungsarbeit erforderlich. Wesentlich scheint zu sein, in welcher Form die Schilddrüsenhormone (T4, T3, T2) angewandt werden.

Ansätze, O&NS zu abzuschwächen, wurden bei beiden Erkrankungen gemacht durch Gabe von Antioxidantien (z.B. N-Acetylcystein, Natriumselenit) und Cofaktoren für die Mitochondrienfunktion (Ubiquinol mit NADH). Hitzeschockproteine konnten die negativen Auswirkungen von O&NS verringern. Eine placebo-kontrollierte Studie mit einem pflanzlichen Präparat Myelophil (Mischung aus Astragali-Wurzel und Rotwurzel-Salbei) zeigte (nur) bei schweren Fällen von ME/CFS eine signifikante Wirkung. Dieses Präparat hat neben der antioxidativen auch eine immunmodulatorische Wirkung und ist in der Lage, die corticotrope Hormonachse zu modulieren. Allerdings bleibt fraglich, ob das Potential dieser Antioxidantien ausreicht, den „Teufelskreis“ tatsächlich zu durchbrechen. Darüber hinaus gibt es viele Versuche bei beiden Erkrankungen, Entzündungsgeschehen abzuschwächen und/oder das Immunsystem der Patienten zu modulieren. Auch hier bleibt es fraglich, ob diese Eingriffe ausreichen, den „Teufelskreis“ zu unterbrechen. Weiterhin gab es bei beiden Erkrankungen Versuche mit antiviralen Mitteln. Schließlich hat man versucht, den Stoffwechselweg des Kynurenin mit seinen neurotoxischen Metaboliten auszugleichen. Insgesamt findet man vielversprechende Ansätze in den Therapien beider Erkrankungen. Da die dahinterstehenden physiologischen Mechanismen noch nicht vollständig erfasst sind, konnten diese Ansätze noch nicht in Standardanwendungen übernommen werden.

Bei aller Parallelität sind ME/CFS und chronische Intensiverkrankungen doch verschieden. Dies muss bei der Frage, ob ein Therapieversuch auf ME/CFS übertragen werden kann, beachtet werden. Bei ME/CFS können durch die jahrelange Dauer der Erkrankung weitere Dysfunktionen auftreten; die Krankheit kann mit der Zeit fortschreiten; innerhalb der ME/CFS-Patienten können Sub-Gruppen auftreten; Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen müssen beachtet werden.

Nach den Erfahrungen mit der Behandlung chronischer Intensiverkrankungen könnte die Behandlung mit stimulierenden Hormonen auch für ME/CFS eine gute Behandlungsoption sein. Die gleichzeitige Aktivierung mehrerer Hormonachsen wurde aber bisher bei ME/CFS nicht erforscht. Auch die positiven Erfahrungen mit der Gabe von Schilddrüsenhormonen verdienen weitere Forschungsarbeit. Von mehr Zusammenarbeit zwischen den Forschungsfeldern Chronische Intensiverkrankung, ME/CFS, Fibromyalgie und Long-Covid könnte man einen Erkenntnisschub erwarten.

Zusammenfassung von Dr. Sabine Schütz