Auf dem Foto sieht man ein Kiosk-Regal mit Zeitungen

Fatigatio e.V. lehnt Bewertung inhaltlich mangelhafter IQWiG-Informationstexte durch Betroffene ab

Aktuelles

Die Medizinische Hochschule Hannover sucht im Auftrag des IQWiG ME/CFS-Betroffene, um die Verständlichkeit von Informationstexten zum Krankheitsbild zu bewerten. Die Texte weisen gravierende inhaltliche Mängel hinsichtlich aktivierender Therapieverfahren und Prävalenz auf. Eine Verständlichkeitsbewertung durch Betroffene lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt entschieden ab.

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Jüngst erreichte unsere Regional- und Selbsthilfegruppen eine Anfrage der Medizinischen Hochschule Hannover, Informationstexte zum Krankheitsbild ME/CFS aus Betroffenenperspektive hinsichtlich ihrer Verständlichkeit zu bewerten. Die Informationstexte sind Bestandteil des vom IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) verfassten Vorberichts über den aktuellen Kenntnisstand zu ME/CFS, welcher am 13. Oktober 2022 veröffentlicht wurde. Die Texte zur Gesundheitsinformation umfassen vier Teilabschnitte: (1) Einen Überblick zu ME/CFS, (2) Informationen zu Beschwerden und Diagnose, (3) zur Behandlung und (4) zur Unterstützung im Alltag mit ME/CFS.

Nach eingehender Prüfung der vom IQWiG verfassten Informationstexte haben wir die Anfrage, eine Bewertung der Verständlichkeit aus Betroffenenperspektive vorzunehmen, entschieden abgelehnt. Die Informationstexte weisen – ebenso wie der restliche IQWiG-Vorbericht – erhebliche inhaltliche Mängel auf. Von den zahlreichen problematischen Formulierungen und Aussagen sind insbesondere die beiden folgenden hervorzuheben:

  • Schätzungen auf Basis von internationalen Studien zufolge ist etwa 1 von 1000 Erwachsenen in Deutschland an ME/CFS erkrankt - also rund 70.000 Menschen. Untersuchungen hierzulande fehlen.“ (Überblick, S. 3)

    Diese Schätzung berücksichtigt nicht die erhebliche Dunkelziffer der Erkrankten. ME/CFS ist mangels adäquater Fortbildungen in der Medizin und Ärzteschaft überwiegend unbekannt. Betroffene benötigen nicht selten Jahrzehnte bis zur Diagnosestellung – wichtige Jahre, in denen es angesichts von Fehldiagnosen und schädigenden Therapieverfahren zur gesundheitlichen Zustandsverschlechterung kommt. Die Nicht-Berücksichtigung der Dunkelziffer reproduziert die Verharmlosung der Krankheitshäufigkeit und trägt dazu bei, dass Ärzt:innen den Betroffenen Diagnosen aufgrund falscher Vorstellungen über die Prävalenz vorenthalten. International renommierte ME/CFS-Expert:innen gehen stattdessen von einer deutlich höheren Prävalenz mit ca. 250.000 Betroffenen aus, deren Zahl infolge der Pandemie drastisch steigen wird (s. z.B. Renz-Polster/Scheibenbogen 2022).
     
  • Möglichkeiten zum Umgang mit der Erkrankung sind unter anderem: (…) 

    Aktivierung: Hier liegt der Schwerpunkt darauf, unter ärztlicher und physiotherapeutischer Betreuung die körperlichen Belastungen schrittweise und langsam zu steigern. Dabei ist es wichtig, die Belastungen so anzupassen, dass sich die Beschwerden nicht verschlechtern. 

    kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Diese Therapie soll dabei helfen, mit den seelischen Belastungen durch die Erkrankung besser umzugehen. So sollen Strategien erlernt werden, die im Umgang mit den Beschwerden und mit Folgen wie depressiven Gedanken und Ängsten helfen. Dazu kann auch gehören, die Erkrankung besser einzuschätzen und zu lernen, Aktivitäten richtig zu dosieren.

    Für keine dieser (...) Möglichkeiten haben gute Studien einen klaren Vorteil gezeigt. Einzelne Studien deuten aber darauf hin, dass die kognitive Verhaltenstherapie und die körperliche Aktivierung einigen Betroffenen mit leichter bis mittelschwerer ME/CFS helfen kann, bestimmte Beschwerden zumindest vorübergehend etwas zu mindern. Bei Menschen mit schwerer ME/CFS sind die Behandlungen kaum erforscht.“ (Überblick, S. 5)

    Auf Basis der gebündelten Erfahrungswerte unserer rund 2300 Mitglieder sowie aller weiteren Betroffenen, die unsere Regional- und Selbsthilfegruppen aufsuchen oder sich an die Sozial- und Telefondienste des Bundesverbands ME/CFS wenden, müssen wir dieser Darstellung mit aller Klarheit widersprechen. Uns liegen unzählige Berichte von Betroffenen im drei- bis vierstelligen Bereich vor, in denen Menschen mit ME/CFS durch aktivierende Therapien in Form von Kognitiver Verhaltenstherapie und Graded Exercise-Therapie massiv gesundheitlich geschädigt wurden. Dies betrifft sowohl den ambulanten Bereich als auch stationäre Einrichtungen wie Psychosomatische Kliniken und Reha-Kliniken. Eine Aktivierung zur Ausweitung der körperlichen Belastbarkeit führt bei ME/CFS angesichts der ausgeprägten Belastungsintoleranz (PEM – Post Extertionelle Malaise) zu einer langanhaltenden und mitunter irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands – bis hin zur Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit. Dies gilt auch und insbesondere für leicht oder moderat Betroffene. Oftmals werden zuvor nur mäßig eingeschränkte ME/CFS-Betroffene durch aktivierende Therapieverfahren zu Schwerstbetroffenen, die mit hohem Leidensdruck an Rollstuhl, Pflegebett, künstliche Ernährung und abgedunkelte, schallgedämmte Räumlichkeiten gebunden sind. Der IQWiG-Vorbericht beruft sich dabei auf veraltete Studien, die selbst für Laien deutlich erkennbare methodische Mängel aufweisen (s. dazu auch Comments-on-German-IQWiG-report - EMEC)

Nationale und internationale Wissenschaftler:innen, Betroffenenverbände, Ärzt:innen und Therapeut:innen haben sich bereits deutlich von den Aussagen des IQWiG-Vorberichts distanziert. Der Vorbericht befindet sich aktuell bis zum 27. November im Stellungnahmeverfahren. Der Fatigatio e.V. - Bundesverband ME/CFS sowie zahlreiche weitere Akteure haben bereits die Einreichung einer Stellungnahme inklusive der umfassenden inhaltlichen Beanstandung der genannten Aussagen angekündigt. Aufgrund des offenen Verfahrens sowie der inhaltlichen Mängel halten wir eine Bewertung der Verständlichkeit der Gesundheitsinformationstexte durch Betroffene zum jetzigen Zeitpunkt für unangemessen. Die Beantwortung der Fragen zu den Informationstexten des IQWiG lehnen wir somit als Bundesverband ME/CFS geschlossen ab.

 

Bildquelle: IQWIG