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Hypothese - Pathomechanismus

Aktuelles

Hypothese: Der gleiche Pathomechanismus, der eine Genesung von Patienten mit verlängerter Intensivbehandlung verhindert, unterliegt auch der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS).

 

Einzelne Intensivpatienten treten nach dem Abklingen ihrer akuten Erkrankung nicht in den Genesungsprozess ein und benötigen weitere intensivmedizinische Behandlung. Es zeigt sich ein biphasisches Muster. In der akuten Phase werden zunächst größere Mengen proinflammatorischer Cytokine ausgeschüttet und es findet eine Dysregulation des hormonellen Regelkreises statt. So werden Energie und Ressourcen für die Funktion der wesentlichen Organe und zur Heilung bereitgestellt. In der nach wenigen Tagen eintretenden chronischen Phase wird diese Dysregulation weiter aufrechterhalten, obwohl die akuten Symptome abgeklungen sind. Vermutet wird eine fehlerhafte Anpassung, die die Genesung verhindert.

 

Unabhängig von der Art der ursprünglichen akuten Erkrankung sind die Symptome dieser Patienten ähnlich: Muskelschwäche, kognitive Beeinträchtigungen, Schmerzstörungen, Infektanfälligkeit, u.a. Im vorliegenden Artikel werden diese bei einer chronischen Intensiverkrankung auftretenden Symptome denen von ME/CFS gegenübergestellt. Daraus wird die Hypothese entwickelt, dass bei beiden Erkrankungen die gleichen Mechanismen einer fehlerhaften Anpassung (Dysregulation der hormonellen Achsen) zugrunde liegen könnten. Diese wären auch bei ME/CFS unabhängig vom Auslöser der Erkrankung (Infektion, übermäßig stress-belastendes Ereignis, Umwelttoxine, etc.).

Im Einzelnen geht es dabei zum einen um die Unterdrückung der stoßweisen Ausschüttung der stimulierenden Hormone (ACTH, TSH, Somatotropin) und zum anderen um einen induzierten „Teufelskreis“ zwischen Entzündung (pro-inflammatorischen Cytokinen), oxidativem und nitrosativem Stress und einer verminderten Funktion von Schilddrüsenhormon T3 in der Zelle. Um die stoßweise Ausschüttung der in der Hypophyse produzierten Hormone zu messen, wurden Häufigkeit und Höhe der von der Hypophyse ausgeschütteten Hormone bei chronischen Intensivpatienten bestimmt. Diese Pulsation scheint – neben der Hormonmenge - ein zusätzliches Signal für die Hormonwirkung im Zielorgan zu sein.

Akute und chronische Phase unterscheiden sich durch Aktivierung bzw. Unterdrückung der Ausschüttung der Hormone. Gleichzeitig haben die Hormone in den beiden Phasen unterschiedliche Halbwertszeiten und die Aufnahme in die peripheren Gewebe ist verschieden. Dass die stoßweise Ausschüttung der stimulierenden Hormone in der chronischen Phase unterdrückt wird, wird als entscheidend dafür gesehen, dass die Intensivpatienten sich nicht von ihrer Erkrankung erholen. Aufgrund vieler Parallelen wird vermutet, dass dieser Pathomechanismus auch bei ME/CFS zugrunde liegt. Die Schwere der Hormonunterdrückung könnte sogar dem Schweregrad der Erkrankung entsprechen.

Im vorliegenden Artikel wird die Bedeutung der drei Haupt-Hormonachsen im Einzelnen sowohl für intensivmedizinisch-behandlungspflichtige Krankheiten als auch für ME/CFS beschrieben: zum einen der corticoide Regelkreis (Abb. 1), zum anderen der somatotrope Regelkreis sowie der thyreotrope Regelkreis (Abb. 2). Die Muster der hormonellen Regelkreise haben enorme Auswirkungen sowohl in der akuten als auch in der chronischen Krankheitsphase – z.B. auf das vegetative Nervensystem, das Immunsystem und den allgemeinen Stoffwechsel – mit unzähligen Fehlfunktionen und Symptomen.

Nebennierenrinden-Achse (Abb. 1): Die Veränderung im corticoiden Regelkreis bei chronischer Intensiverkrankung betrifft die Unterdrückung der stoßweisen Ausschüttung von ACTH und eine reduzierte Cortisolbildung. Auch bei ME/CFS-Patienten wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass der typische Morgenpeak von ACTH fehlt oder schwach ausgeprägt ist.

Somatotrope Achse: Die Veränderung im somatotropen Regelkreis bei chronischer Intensiverkrankung betrifft die Unterdrückung der stoßweisen Ausschüttung von GH (growth hormone (engl.) Wachstumshormon) und führt zu einer Dysbalance von kataboler und anaboler Aktivität. Symptome einer Dysfunktion der somatotropen Achse sind geringe Energie, Erschöpfung, mentale Fatigue, geringe Muskelkraft sowie mangelnde Erholung von körperlicher Belastung.

Thyreotrope Achse (Abb. 2): Bei chronischen Intensivpatienten wurde schon in den 1970er Jahren ein „low T3 syndrome“ oder ein „non-thyroidal illness syndrome“ (NTIS) mit einem reduzierten Verhältnis von aktivem Schilddrüsenhormon T3 zu inaktivem reversed T3 (rT3) gefunden. Hier handelt es sich um periphere Mechanismen, bei denen in der akuten Phase Cytokine die Aktivität der Schilddrüsenhormone schnell herunterfahren. Dies geschieht durch Veränderungen in der Häufigkeit und Affinität der hormonbindenden Globuline im Blut; Modifikation der Expression der Transportermoleküle; Auf- und Ab-Regulation der Dejodasen (aktives vs. inaktives rT3); Variationen der Menge bzw. der Isoformen der zellulären Hormonrezeptoren. Jeder dieser Mechanismen betrifft die Funktion bzw. Wirkung der Hormone – mit großen Auswirkungen auf den zellulären Stoffwechsel. Dazu kommt in der chronischen Phase eine zentrale Unterdrückung durch Cytokine, die zu einem praktisch vollständigen Verlust der stoßweisen Ausschüttung von TSH führt. Die Blutkonzentration der Schilddrüsenhormone kann dabei gar nicht oder nur gering beeinflusst sein. Das heißt: diese Vorgänge lassen sich nicht zwingend durch Laborbefunde der Schilddrüsenwerte erfassen. Auch in ME/CFS-Patienten – und Fibromyalgie-Patienten - wurden Vorgänge beobachtet, die einer NTIS ähneln. Einige ME/CFS-Therapeuten haben bereits über die erfolgreiche Behandlung durch Supplementierung mit Schilddrüsenhormonen berichtet. Aber weder die stoßweise Ausschüttung der Hypophyse noch die peripheren Regulationsvorgänge wurden bei ME/CFS-Patienten bisher untersucht.

Anhand jahrzehntelanger Forschung zu chronischen Intensiverkrankungen wurde ein Modell entwickelt, das in Art eines „Teufelskreises“ die Aufrechterhaltung der chronischen Erkrankung erklärt (Abb. 3).

Die postulierten drei Glieder können sich zudem auch untereinander negativ beeinflussen. 1) Zytokine – neben weiteren signalgebenden Faktoren – vermindern die Funktion der Schilddrüsenhormone. Die Konzen-tration der im Blut zirkulierenden Schilddrüsenhormone zeigt dabei allenfalls die „Spitze des Eisbergs“ der Effekte an, die in erster Linie auf zellulärer Ebene passieren. 2) Wenn Schilddrüsenhormone nicht richtig wirken, entsteht oxidativer und nitrosativer Stress (O&NS). Dieser schädigt nicht nur die Mitochondrien, sondern diese können auch nicht aus den Zellen ausgeschleust werden. Außerdem werden Glutathion- und Selenspiegel verbraucht und stehen z.B. nicht mehr für die Dejodasen zur Verfügung, die die Konversion von Schilddrüsenhormon T4 in die aktive Form T3 bewirken. 3) O&NS stimuliert die Produktion pro-inflammatorischer Zytokine. Diese wiederum stimulieren die Produktion von Superoxid-Radikalen. Cytokine, O&NS und die verminderte Funktion von Schilddrüsenhormonen wurden auch bei ME/CFS-Patienten beobachtet. So können nicht nur die tiefgreifenden Veränderungen im Stoffwechsel, Immun- und Hormonsystem erklärt werden. Das Modell eines „Teufelskreises“ könnte auch erklären, warum ME/CFS-Patienten nicht genesen können.

Für ME/CFS wurden bisher unterschiedliche Pathomechanismen – wie allostatische Last (Überbeanspruchungseffekte), Dysregulation des Hormonsystems, Anomalien in der Funktion der Schilddrüsenhormone, Infektionen bzw. Reaktivierung von Viren, chronische Entzündungen, Störungen im Energiestoffwechsel bis zu genetischer Prädisposition – gefunden. Die hier vorgestellte Hypothese eines „Teufelskreises“ von Cytokinen, O&NS und verminderter Funktion von Schilddrüsenhormonen bietet dafür einen übergeordneten Rahmen. Weitere Forschung ist erforderlich. Sollte sich die vorgestellte Hypothese bestätigen, könnten nicht nur ME/CFS-Patienten, sondern auch Fibromyalgie- und Long-COVID-Patienten profitieren. Bisherige Therapieversuche bei chronischen Intensivpatienten, die an der vorgestellten Hypothese ansetzten, sind vielversprechend, stehen aber noch am Anfang.

Zusammenfassung von Dr. Sabine Schütz

Anmerkung: Das Autorenteam setzt diesen Artikel fort in

Frontiers in Medicine (Mai 2021), https://doi.org/10.3389/fmed.2021.672370

Theory: Treatments for Prolonged ICU Patients May Provide New Therapeutic Avenues for Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS)